Mehr Geld für die Pflege, hat das Bundeskabinett am vergangenen Mittwoch beschlossen und bittet die Kinderlosen zur Kasse. Ist das gerecht?
Am 2. Juni 2021 hat das Bundeskabinett eine Pflegereform beschlossen. Kerngedanke der Reform: Pflegeeinrichtungen sollen ihrem Personal mehr Lohn zahlen. Das Mehr an Personalkosten reißt ein finanzielles Loch in die Pflegeversicherung, das durch zwei Maßnahmen geflickt werden soll: Einerseits will der Bund eine Milliarde Euro jährlich in die Pflegeversicherung einzahlen. Andererseits sollen die Beiträge zur Pflegeversicherung für Kinderlose erhöht werden, nämlich um 0,1 Prozentpunkte auf 3,4 Prozent des Bruttoeinkommens. Das soll ungefähr 400 Millionen Euro zusätzlich im Jahr einbringen.
Tatsächlich zahlen Kinderlose schon heute einen höheren Beitrag in die Pflegeversicherung ein, nämlich 0,25 Prozentpunkte mehr. Das gilt seit dem Jahr 2005 und kann auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3. April 2001 zurückgeführt werden: Damals hatte ein Vater von zehn Kindern dagegen geklagt, dass Menschen mit Kindern genauso hohe Beiträge in die Pflegeversicherung einzahlen wie Menschen ohne Kinder. Die Begründung: Menschen mit Kindern leisten bereits „einen generativen Beitrag zur Funktionsfähigkeit eines umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems“.
Pro: Gleiche Beiträge für alle
Damals hatte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales sowie das Bundesministerium für Gesundheit – eben jene Ministerien, die heute die Reform federführend ausgearbeitet haben – noch gegen unterschiedliche Beitragszahlungen argumentiert. Ganz klar gilt: Familien haben mehr Ausgaben, denn Kinder groß zu ziehen kostet einen Haufen Geld. Aber ein „Familienrabatt“ in der Pflegeversicherung wäre so gering, dass er keinen spürbaren Mehrwert für Familien brächte. Das ist allerdings ein zynisches Argument, wenn man bedenkt, dass in der Armut jede noch so kleine finanzielle Entlastung einen Mehrwert darstellt. Als zweites Argument führten die Ministerien an, dass die Pflegeversicherung das falsche Stellrad sei, um die Kosten für Kindererziehung auszugleichen. Dafür gäbe es andere Mittel, beispielsweise das Kindergeld.
Contra: Ungleiches muss ungleich behandelt werden
Das Verfassungsgericht teilt diese Argumentation nicht. Es beschließt, dass es ungerecht ist, wenn Familien die gleichen Beiträge wie Kinderlose zahlen müssen. Kinderlose, die an dieser Stelle mit der Diskriminierungskeule schwingen wollen, sollten aufpassen: Sie kommt wie ein Bumerang zurück. Kinderlose und Familien sind nämlich nicht gleich, sie müssen deshalb auch nicht gleichbehandelt werden. Im Gegenteil, der Gesetzesgeber muss die Ungleichheit der Lebensverhältnisse berücksichtigen. Und die Lebensverhältnisse unterscheiden sich drastisch, nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in der Zukunft.
Ungleich in Gegenwart und Zukunft
In der Gegenwart haben Familien wesentlich höhere Ausgaben. Außerdem gelten sie von Gesetz her als besonders schützenswert. Das liegt zum einen daran, dass Kinder besonders vulnerabel sind. Zum anderen aber auch daran, dass jeder Staat ein Eigeninteresse daran hat, dass seine Bürger und Bürgerinnen Kinder bekommen. Nicht umsonst heißt es: Kinder sind unsere Zukunft. Dies allein rechtfertig allerdings noch nicht, warum Kinderlose höhere Beiträge zahlen sollen.
Erschwerend hinzu kommt die Zukunft: Wenn die Beitragszahlenden nämlich einmal pflegebedürftig werden, macht es einen gravierenden Unterschied, ob sie selbst Kinder haben oder nicht. In der stationären Pflege sind zwar alle gleich teuer, ob mit oder ohne Kind. Aber in der ambulanten Pflege macht es einen großen Unterschied, denn pflegende Angehörige entlasten durch ihre unbezahlte Arbeit die Pflegeversicherung enorm. Im Urteil von 2001 wird damit gerechnet, dass pflegende Angehörige der Pflegeversicherung im Jahr 2000 Mehrkosten von 3,53 Milliarden DM erspart haben. Diese Differenz sollen Kinderlose mit ihren erhöhten Beitragszahlungen ausgleichen.
Zwei Einwände
Die Grünen-Politikerin Kordula Schulz-Asche wirft im Zuge der erneuten Beitragserhöhung für Kinderlose die Frage auf, ob das noch immer verfassungskonform sei. Schließlich komme man irgendwann an den Punkt, wo es sich nicht mehr um eine gerechte Ungleichbehandlung auf Grund von ungleichen Verhältnissen handelt, sondern einfach um eine diskriminierende Benachteiligung von Kinderlosen. Bisher hält sich der empörte Aufschrei der Kinderlosen allerdings in Grenzen. Das dürfte auch daran liegen, dass es sich nach wie vor um eher geringe Mehrkosten handelt.
Ein zweiter Einwand gegen das Finanzierungsmodell der Pflegereform ist grundsätzlicher: Eltern zahlen heute weniger Beiträge, weil sie im Alter von ihren Kindern gepflegt werden sollen. Die Kinder von heute werden also fest in das Pflegesystem eingeplant. Sie sollen die pflegenden Angehörigen von Morgen sein. Auf ihrer Leistung beruht das Finanzierungssystem der Pflegeversicherung. Es sind also tatsächlich nicht die Kinderlosen, auf dessen Kosten sich die Pflegeversicherung finanziert, sondern die heutigen Kinder.
Quellen
Bundesverfassungsgericht. (2001, 3. April) 1BvR 1629/94. Abgerufen am 06.06.2021 von https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2001/04/rs20010403_1bvr162994.html
Finanzierung der Pflegeversicherung. Bundesministerium für Gesundheit. Abgerufen am 06.06.2021 von https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/pflege/online-ratgeber-pflege/die-pflegeversicherung/finanzierung.html
(2021, 2. Juni) Ist die einseitige Belastung von Kinderlosen verfassungswidrig? Deutschlandfunk. Abgerufen am 06.06.2021 von https://www.deutschlandfunk.de/pflegereform-ist-die-einseitige-belastung-von-kinderlosen.1939.de.html?drn:news_id=1265598
Frank Capellan (2021, 02. Juni) Zweifel an Wirkung und Finanzierung bleiben. Deutschlandfunk. Abgerufen am 06.06.2021 von https://www.deutschlandfunk.de/kabinett-beschliesst-pflegereform-zweifel-an-wirkung-und.766.de.html?dram:article_id=498216
Verena Bentele im Gespräch mit Barbara Schmidt-Mattern (2021, 1. Juni) Pflege durch Pflegevollversicherung finanzieren. Deutschlandfunk. Abgerufen am 06.06.2021 von https://www.deutschlandfunk.de/vdk-praesidentin-verena-bentele-pflege-durch.694.de.html?dram:article_id=498130
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