Das neue Gesetz „Herstellung zur materiellen Gerechtigkeit“ erlaubt es, in besonders schweren Fällen wie Mord, einen Freispruch erneut aufzurollen. Aber ist das gerecht?
Das Gesetz
Wer einmal freigesprochen wird, kann in der Regel nicht neu angeklagt werden. Es gibt zwar einige Ausnahmen – zum Beispiel wenn der Freigesprochene ein Geständnis ablegt. Aber an sich ist ein Freispruch endgültig. Mit dem Gesetz „Herstellung zur materiellen Gerechtigkeit“ soll das geändert werden: In besonders schweren Fällen ist es dann möglich, erneut Anklage zu erheben, wenn schwerwiegende Beweise auftreten. Das bezieht sich zum Beispiel auf DNA-Spuren, die zur Zeit des Verbrechens noch nicht ausgewertet werden konnten, 20 Jahre später aber eindeutig nachweisen können, wer das Kondom neben dem Opfer benutzt hat.
Der Weg des Gesetzes
CDU/CSU und SPD haben das Gesetz eingebracht. Gemeinsam mit der AfD haben sie es am 28.06.2021 im Bundestag beschlossen.
Als nächsten Schritt muss es vom Bundesrat abgesegnet werden. Wenn eine absolute Mehrheit im Bundesrat Einspruch einlegt, muss das Gesetz im Vermittlungsausschuss neu verhandelt werden. Aufgrund der kurzbevorstehenden Bundestagswahl fehlt dafür die Zeit - das Gesetz wird erstmal auf Eis gelegt. Ob es erneut zu einer Abstimmung kommt, hängt dann von der neuen Regierung ab.
Es zeichnet sich jedoch ab, dass der Bundesrat keinen Einspruch einlegen wird. Wenn er dem Gesetz zustimmt, muss als letzte Instanz Bundespräsident Steinmeier zustimmen und unterschreiben. Anschließend ist das neue Gesetz erlassen – und wird wohl vorm Verfassungsgericht landen.
Ist das Gesetz verfassungswidrig?
Das neue Gesetz ist umstritten: Es widerspreche dem Doppelbestrafungsverbot, welches in Artikel 103, Absatz 3 des Grundgesetzes festgeschrieben ist.
Befürworter des Gesetzes weisen diesen Vorwurf ab, weil das Gesetz nur für ganz bestimmte Fälle, nämlich schwerste Straftaten, einen erneuten Prozess erlaubt. Es handele sich insofern um eine „Grenzkorrektur“, so der Jurist und Professor Jörg Eisele in einer Stellungnahme vorm Bundestag.
Kritiker, wie der Richter Dr. Ulf Buermeyer, sprechen hingegen von einem „Bruch mit demokratischen Werten“, weil das Gesetz offenkundig dem Doppelbestrafungsverbot widerspreche.
Vom Allgemeinen zum Persönlichen
Das neue Gesetz wirft die Frage auf, wie in Deutschland Gerechtigkeit verstanden wird und wie Recht gesprochen werden soll. Was ist schützenswerter: Die Gewissheit des Angeklagten, dass ein Freispruch endgültig ist? Oder die Gewissheit der Angehörigen, dass ein Mörder Jahrzehnte später und auch nach einem Freispruch noch angeklagt und verurteilt werden kann? Was ist wichtiger: Den Unschuldigen vor einem Prozess zu schützen – oder den Schuldigen zu verurteilen?
Diese Fragen sind sehr abstrakt – es gibt aber zahlreiche Einzelschicksale, die sie veranschaulichen.
Fallbeispiel 1: Ein erneuter Prozess ist gerecht
Das neue Gesetz geht auf die Initiative eines Vaters zurück: Seine 17-Jährige Tochter wurde in den 90er Jahren vergewaltigt und ermordet. Der Angeklagte wurde freigesprochen, weil es damals nicht genug Beweise gab. 20 Jahre später wurde jedoch mit Hilfe der fortgeschrittenen Technik DNA-Material des Angeklagten am Leichnam gefunden. Das ist ein schwerwiegender Beweis, der zur Verurteilung führen könnte – wenn es zu einem Prozess kommen würde. Aufgrund des Doppelbestrafungsverbots darf der Freigesprochene nicht wieder angeklagt werden. Das heißt, er bleibt rechtmäßig unschuldig, obwohl man heute wahrscheinlich weiß, was zur Zeit des Prozesses noch nicht sicher war: Er hat das 17-Jährige Mädchen umgebracht.
Ein Mörder bleibt unbestraft, obwohl es genug Beweise gebe, um ihn zu verurteilen. Das sei unerträglich und entspreche nicht unserer Vorstellung von Gerechtigkeit, so die Argumentation der Befürworter. Deshalb wollen sie das das Gesetz dahingehend verändern, dass im Fall von Mord eine erneute Anklage möglich ist.
Fallbeispiel 2: Schnell angeklagt
Jemand wird des Mordes angeklagt. Der Angeklagte muss den zermürbenden Prozess durchleben, wird am Ende aber freigesprochen, weil die Beweislast nicht ausreicht. Trotz Freispruch ist sein Leben ruiniert: Er ist als vermeidlicher Mörder*in durch die Presse gegangen.
Wenn die Staatsanwaltschaft so oft anklagen kann, wie sie möchte, befürchten Kritiker, dass sie schneller und häufiger anklagt. Wenn der erste Versuch nicht zum Schuldspruch führt, versucht man es einfach noch einmal. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass jemand fälschlicherweise angeklagt wird. Selbst wenn es nicht zu einer Verurteilung kommt, ist bereits der Prozess eine schreckliche Erfahrung.
Fallbeispiel 3: Oft angeklagt
Jemand wird des Mordes angeklagt und freigesprochen. Aber kann er sich seiner Freiheit wirklich gewiss sein? Zehn Jahre später wird seine DNA an einem Zigarettenstummel nachgewiesen, der am Tatort gefunden wurde. Erneut wird er angeklagt, erneut muss er einen Prozess durchlaufen. Erneut wird er freigesprochen, weil der Zigarettenstummel nicht als Beweis ausreicht.
Das Doppelbestrafungsverbot geht auf die NS-Zeit zurück: Damals konnte man immer wieder angeklagt werden, der Prozess war eine Schikane. Obwohl es keine ausreichenden Beweise für einen Schuldspruch gab, konnte der Angeklagte so zermürbt werden.
Fazit
Ob das neue Gesetz zu mehr Gerechtigkeit führt, hängt davon ab, wie es angewandt wird. Es kann den Angehörigen Gerechtigkeit verschaffen – aber es kann auch dazu genutzt werden, Unschuldige immer weiter zu malträtieren.
Quellen
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