Wer war Edward Malinowski? Und: Was hat er getan, als das polnische Dorf Malinowo, dessen Vorsteher er war, 1939 von den Deutschen besetzt wurde?
Die zwei renommierten polnischen Historiker Engelking und Grabowski gaben 2018 eine Antwort auf diese Fragen. In ihrem 1600-seitigen Werk „Und immer noch ist Nacht“ werden unter anderem die Taten des Dorfvorstehers beschrieben – in drei Absätzen. Es wird auf eine jüdische Zeitzeugin verwiesen, die davon berichtet, dass der Dorfvorsteher ihr bei der Flucht geholfen habe. Sie erzählt aber auch, „dass er mitschuldig am Tod von über 20 im Wald versteckten Juden war“.
Die Nichte von Malinowski hat gegen diese Textpassage geklagt, weil sie ihren Onkel verleumde. Er sei ein Kriegsheld gewesen, kein Nazi-Kollaborateur. Grundlage für die Klage ist das 2018 verabschiedete polnische Holocaust-Gesetz, dass es unter Strafe stellt dem polnischen Staat oder Volk „faktenwidrig die Verantwortung oder Mitverantwortung für Verbrechen“ der Nazis zuzuschreiben. Das Gesetz wurde damals stark kritisiert: Es sei eine Zensur und behindere die Holocaust-Forschung. Dass diese Kritik berechtigt ist, zeigt der jetzige Fall.
Das Problem liegt in dem Wörtchen „faktenwidrig“: Denn Historiker haben es nicht leicht, wenn es um die Wahrheit geht: Sie stellen Vermutungen auf, die sie mit Zeugenaussagen und Dokumenten belegen. So rekonstruieren sie Ereignisse, aber ob diese tatsächlich genauso geschehen sind, vermag keiner mit Sicherheit zu sagen. Ihre Thesen sind nicht wahr, sondern sie sind plausibel.
Im Fall von „Und immer noch ist Nacht“ ist es besonders knifflig: Die Zeugin hat in einem Nachkriegsprozess ausgesagt, der Dorfvorsteher Malinowski sei unschuldig, er habe keine Juden an die Nazis ausgeliefert. Deshalb argumentiert seine Nichte heute, dass die Schuldzuschreiben der Historiker faktenwidrig sei. Den Historikern wiederum liegt eine Aussage von 1996 vor, in der die Zeugin bekennt, dass ihre Aussage vor dem Kriegsgericht damals falsch gewesen sei. Warum sie eine Falschaussage machte, kann heute nur spekuliert werden. Vielleicht war es aus Dankbarkeit – der Dorfvorsteher hatte ihr schließlich geholfen. Oder vielleicht lag es daran, dass weitere Ankläger vor ihrer Aussage bedroht und verprügelt wurden. Beides sind plausible Argumente, warum die Zeugin eine Aussage machte, die sie Jahrzehnte später revidierte.
Was ist nun die Wahrheit? Mit aller Sicherheit lässt sich das nicht sagen – und deshalb argumentiert die Nichte in ihrer Anklage, die Aussagen seien faktenwidrig.
Noch ein zweiter Punkt wird im Gerichtssaal diskutiert: Den Historikern ist eine Verwechslung passiert: Tatsächlich hatte die Zeugin Kontakt zu zwei Edward Malinowskis:
Einerseits dem Onkel der Klägerin, dem Dorfvorsteher, der die Zeugin gerettet und andere Juden ausgeliefert habe.
Und andererseits ein Malinowski, mit dem sie Handel betrieb.
Fälschlicherweise werden beide Malinowskis als einer verstanden. Der Fehler wurde inzwischen korrigiert. Aber auch diese historische Fehlinterpretation bietet heute den Nährboden für die Gerichtsklage. Anstatt in wissenschaftlichen Fachkreisen, müssen die beiden renommierten Historiker ihren Fehler jetzt vor Gericht rechtfertigen.
Am 09.02.2021 verurteil das polnische Gericht in Warschau die beiden Holocaust-Forscher. Sie müssen sich bei der Enkelin entschuldigen, weil sie den guten Ruf ihres Onkels geschädigt hätten. Immerhin, so lautet der verhaltene Optimismus, wurden Holocaust-Forscher Engelking und Grabowski nicht zu der eingeforderten Geldstrafe von umgerechnet über 20.000 Euro verurteilt.
Quellen
Gabrielle Lesser (2021, 07. Februar) Das Recht auf Nationalstolz. TAZ. Abgerufen am 13.02.2021 von https://taz.de/Polen-und-der-Holocaust/!5746521/
Jacek Lepiarz (2021, 10. Februar) Polen: Holocaust-Forscher vor Gericht. Deutsche Welle. Abgerufen am 13.02.2021 von https://www.dw.com/de/polen-holocaust-forscher-vor-gericht/a-56523663
Jan Pallokat (2021, 09. Februar) Holocaust-Forscher vor Gericht. Tagesschau. Abgerufen am 13.02.2021 von https://www.tagesschau.de/ausland/europa/polen-geschichte-holocaust-101.html
(2021, 09. Februar) Gericht in Polen verurteilt Holocaustforscher zu Entschuldigung. Redaktionsnetzwerk Deutschland. Abgerufen am 13.02.2021 von https://www.rnd.de/politik/gericht-in-polen-verurteilt-holocaust-forscher-zu-entschuldigung-YMREOLIC34BM7X6OVALRCHJVAQ.html
Gesetz über das Institut des Nationalen Gedenkens -Kommission für die Verfolgung von Verbrechen gegen das Polnische Volk. Wikipedia. Abgerufen am 13.02.2021 von https://de.wikipedia.org/wiki/Gesetz_%C3%BCber_das_Institut_des_Nationalen_Gedenkens_%E2%80%93_Kommission_f%C3%BCr_die_Verfolgung_von_Verbrechen_gegen_das_Polnische_Volk
(2018, 01. Februar) „Verleugnung der polnischen Rolle im Holocaust“. Zeit. Abgerufen am 13.02.2021 von https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-02/holocaust-gesetz-polen-international-kritik
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