Eine junge Frau wird ungewollt schwanger. Sie ist auf sich allein gestellt, hat keine finanziellen Rücklagen und könnte ihren Ausbildungsplatz verlieren. Schweren Herzens entscheidet sie sich gegen eine Schwangerschaft: Sie möchte abtreiben.
Dieses Szenario ist nicht neu. Auch vor der historischen Entscheidung vom 30.12.2020 im argentinischen Parlament, Abtreibung zu legalisieren, haben Frauen abgetrieben. Allerdings gingen sie dafür ins Hinterzimmer, zu Quacksalbern, oder versuchten es im schlimmsten Fall selbst. Schätzungsweise 370.000 bis 520.000 Argentinierinnen haben jährlich illegal abgetrieben. Bei ungefähr jeder 10. – das heißt bei 50.000 Frauen jedes Jahr – kam es zu Problemen und die Frau musste danach ins Krankenhaus.
Vergangenen Mittwoch entschied das Parlament nach 12 Stunden Verhandlung, die Gesetzeslage zu ändern. Abtreibung ist in dem streng katholischen Land ab sofort bis zur 14. Schwangerschaftswoche erlaubt. Außerdem werden die Kosten vom öffentlichen Gesundheitssystem getragen. Zum Vergleich: In Deutschland ist ein Schwangerschaftsabbruch bis zur 12. Woche erlaubt, die Kosten muss die Frau selbst tragen.
Das Gesetz ist ein gewaltiger Triumph für die argentinische Frauenbewegung, die bereits acht Mal versucht hatte, Abtreibung zu legalisieren, zuletzt 2018. Damals gelingt es der Bewegung zwar, dass über eine Legalisierung abgestimmt wird. Der Gesetzesentwurf scheitert jedoch vor dem Senat. 2020 nimmt die Bewegung einen neuen Anlauf. Dieses Jahr hat sie auch den Rückhalt des argentinischen Präsidenten Alberto Fernández, der sich im Wahlkampf für eine Legalisierung ausgesprochen hatte.
Der größte Gegner einer Legalisierung ist aber nicht politischer Natur, sondern eine Institution: Die katholische Kirche. Ein Großteil der ArgentinierInnen ist katholisch, und die VertreterInnen dieser Glaubensrichtung positionieren sich eindeutig gegen Abtreibung. Für sie steht der Schutz des ungeborenen Lebens an erster Stelle.
Auch Papst Franziskus, der aus Argentinien stammt, bezieht Stellung in der Debatte und spricht sich gegen eine Legalisierung aus. In den Medien wird häufig auf einen Tweet verwiesen, den Franziskus einen Tag vor der Verhandlung am 30.12.2020 abgesetzt hat.
Er schreibt: „Der Sohn Gottes wurde als Ausgeschlossener geboren, um uns zu sagen, dass jeder ausgeschlossene Mensch ein Kind Gottes ist. Er kam in die Welt, wie ein Kind in die Welt kommt, schwach und zerbrechlich, so dass wir unsere Schwächen mit Zärtlichkeit aufnehmen können.“ (Übersetzung der FAZ).
Hier wird das Dilemma der Debatte deutlich: Auch Abtreibungs-Befürworter sind schließlich für den Schutz des Lebens und würden Franziskus Aussage eigentlich zustimmen. Allerdings ist nicht nur der ungeborene Fötus „ein Kind Gottes“, sondern eben auch jene junge Frau, die den Fötus austragen muss. Auch sie ist „schwach und zerbrechlich“ und verdient Schutz. Hierin besteht das Hauptargument der Abtreibungs-Befürworter: Durch eine Legalisierung werde es nicht mehr Abtreibungen geben, aber wer keine andere Wahl sieht als abzutreiben, kann dies nun sicher und kostenfrei tun. Insofern stellt das neue Gesetz einen Schutz der „schwachen und zerbrechlichen“ dar, wenn auch nicht im Sinne von Papst Franziskus, so doch im Sinne von vielen Frauen und Mädchen.
Quellen
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(2020, 30. Dezember) Argentinien legalisiert Schwangerschaftsabbrüche. Zeit. Abgerufen am 03.01.2021 von https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-12/frauenrecht-argentinien-schwangerschaftsabbrueche-legalisierung-senat-gesetzesreform-christina-kirchner
(2020, 30. Dezember) Argentinien legalisiert Abtreibung. Deutsche Welle. Abgerufen am 03.01.2021 von https://www.dw.com/de/argentinien-legalisiert-abtreibungen/a-56093918
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